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Künstliche Intelligenz im Lektorat?

04.11.2024. Seit der ChatGPT-Welle wurde bald deutlich, dass Künstliche Intelligenz begeistert oder Sorgen bereitet, dass sie im künstlerischen Bereich aneckt und im sprachlichen nur dann etwas leistet, wenn man weiß, was man sagen will und in der Lage ist, entweder in einem exakt formulierten und strukturierten Prompt der Maschine Intention, Stil und Zielgruppe einzugeben oder mit ihr in einen mehrstufigen Dialog zu treten, in welchem die Informationen zum Umfeld des Textes übermittelt und die Anforderungen an ihn herausgearbeitet werden.

Noch aufwendiger wird es im Lektorat, das abgesehen von Styleguides, Wordings und formalen Richtlinien semantische Reichweiten und Schwankungen auch zwischen den Zeilen einschätzen muss. In der zwischenmenschlichen Kommunikation umfasst dieses Ab- und Einschätzungsvermögen eine Komplexität, die sich eine Maschine nicht ad hoc erschließt. Zudem versteht KI nicht das, was sie tut; sie arbeitet also syntaktisch. Ja und, reicht das nicht?

Das kann reichen, zum Beispiel wenn ein Journalist in einem Artikel zwei Politikerinnen vergleichen will und deswegen mit der KI zwei Abstracts von je fünf Zeilen Länge anfordert. Damit erspart er sich, zwei Wikipedia-Einträge zusammenzufassen, und kann die Abstracts nach Anpassung an seinen Stil einarbeiten.

Eine Lektorin kann nach Wiederholungen in einem größeren Textvolumen suchen und ersetzen lassen; sie kann sich überlange Sätze, inkonsequente Schreibweisen und bis zu einem gewissen Grad auch Stilabweichungen anzeigen lassen. Dies ist allerdings schon lange mit üblichen Schreibprogrammen möglich und weniger ein Umstand der Intelligenz. Professionelle Lektor:innen sollten derartige Bearbeitungen per se en passant beherrschen.

Das heißt, Künstliche Intelligenz ist vor allem im Erkennen von Mustern gut. Alles, das sich vom Muster entfernt in Richtung Kreation, Willensintelligenz, Reflexion und Gefühlsintelligenz ist wie die Verwendung einer Fremdsprache, losgelöst aus ihrem kulturellen Gepräge und in Unkenntnis ihrer Idiome.

Ich habe mehrere Lektorate, die mittels Künstlicher Intelligenz erstellt wurden, bewertet und sie mit humanen Arbeiten verglichen. In einem typischen Fall benötigte die KI für einen anderthalbseitigen Text (ca. 2.800 Zeichen) wenige Sekunden, ich 75 Minuten. Inhaltlich geht es in dem Text um Kältehilfe für Wohnungslose in einer deutschen Großstadt. Mein Lektorat umfasst 106 Änderungen und sechs Kommentare, das der KI 48 Änderungen und 16 Empfehlungen. Sie erkannte immerhin, dass es nicht „in unwägbarem Gelände“, sondern „in unwegsamem Gelände“ heißen muss. Und ihre wenigeren Fundstellen müssen kein Qualitätsmerkmal sein. Doch viele Fakten hat sie nicht geprüft und bleiben somit falsch (u. a. passten Bundesland und Landkreis nicht zusammen; zwei Psychologinnen wurden gegendert, obwohl es tatsächlich zwei Frauen sind); Konjunktiv I wurde mit präsentischen Verben verwechselt; emotionsstarke Adjektive wurden an Stellen empfohlen, bei denen eine zurückhaltende Darstellung zielführender gewesen wäre. Überhaupt die Tonalität: Trotz Vorgabe für eine behutsam sachliche Darstellung erinnert der von der KI geänderte Text vom Stil her mehr an die Anweisungen für einen effizienten Umgang mit einer Gefrier-Kühl-Kombination.

Sichern Sie Intention und Ansprache Ihres Textes zusammen mit einem erfahrenen Lektor!

Lektorat Oliver Krull